Sonntag, 19. Oktober 2014

Zu alt für Popmusik


Irgendwann trifft es jeden. Früher oder später kommt der Punkt, an dem man trotz aller  Versuche, jung, cool und hip zu wirken nicht mehr länger verhehlen kann, dass man von der Zeit eingeholt wird. Mitmenschen lassen sich noch durch Äußerlichkeiten täuschen, durch Sportlichkeit, durch einen entsprechenden Kleidungsstil. Aber das Selbst ist schlauer: Es lässt sich nicht durch sein jugendliches Spiegelbild einlullen - Selbsterkenntnis kann grausam sein. Viele versuchen, den Tag zu vergessen, an dem es ihnen zum ersten Mal auffällt, dass sie sich plötzlich nicht mehr jung fühlen können. Klar, wer will in unserer Gesellschaft schon alt sein? Sich alt fühlen ist der Vorbote von all den hässlichen Dingen, die auf -enz enden: Inkontinenz, Impotenz, Demenz. Wer sich alt fühlt, steht an der Schwelle zum körperlichen und geistigen Verfall. Angeblich.

Denn ist 'sich alt fühlen' zwingend etwas konstantes, oder hängt es nicht viel mehr mit der Vergleichgruppe zusammen, mit der man sich umgibt? (Fragt mich jetzt bitte nicht, ob das nicht auch nur ein Trick meines Gehirns ist, um das Unausweichliche zu negieren - ich befürchte, der Boden der Tatsachen wäre zu hart, als dass ich nach vier Jahren Sturz jetzt daraufknallen möchte.)

Der Tag, an dem ich mich zum ersten Mal alt gefühlt habe, liegt, wie gesagt, etwa vier Jahre zurück. Und vermutlich hätte ich ihn schon lange vergessen, wenn nicht im gleichen Moment die obige Frage in meinen Kopf geschossen wäre und mich seitdem immer wieder daran erinnert, dass, egal wie jung ich mich fühle, es immer noch Menschen gibt, für die ich alt wirke.

Ich war Anfang 20 und auf einem Konzert von Fettes Brot. Meine Freundin wollte sie unbedingt live sehen, ich bin mehr ihretwegen als wegen der Band mitgefahren. Als ich etwa 14, 15 Jahre alt war, mochte ich ihre Musik wirklich sehr, 'Silberfische in meinem Bett' lief rauf und runter, aber in den vergangenen Jahren war ich diesem Musikgenre doch eher, wie man soch schön sagt, entwachsen.

Trotzdem: Die Stimmung beim Konzert war nicht übel, die Halle voll bis auf den letzten Quadratmeter. Bei Bettina, Tage wie diesen und Emanuela gab es um mich herum kein Halten, und obwohl sich meine eigentlich recht profunde Textkenntnis in vielen deutschen Musikgenres hier meist nur auf den Refrain beschränkte, konnte ich mich doch damit anfreunden, dass um mich herum gegrölt, getanzt und geschubst wurde wie auf meinen schönsten Skakonzerten.
Nachden aktuelleren Songs lieferten die Brote eine kleine Zeitreise zurück in die 90er und frühen 2000er Jahre (Nordisch by Nature, Ruf mich an, Schwule Mädchen und wie sie nicht alle hießen).

Ich: Gröle, beseelt vom Wiedererkennungswert, jede Zeile mit.

Um mich herum: Menschen gehen Bier holen. Drehen sich eine Zigarette. Packen die Smartphones, mit denen sie konsequent alles mitgefilmt haben, in ihre Taschen. Insgesamt: Stille.

Ich weiß nicht, ob ihr das kennt, aber egal wie laut so ein Konzert ist, man kann immer noch recht gut einschätzen, wie viel Lärm die Menschen um einen herum machen. Zu diesem Zeitpunkt war von den Kiddies um mich herum leider kein Mucks zu hören - wodurch ich mit meinem ohnehin schon recht lauten Organ umso mehr auffiel. Irgendwann bemerkte ich, wie mich andere, wesentlich jüngere Leute leicht schief von der Seite anschauten.Und ich musste realisieren: Die dachten gerade alle knallhart "Wie alt muss der denn sein, dass der die Tracks noch kennt?"

Auf einmal war ich der alte Geck von der Fähre, den Aschenbach aus Manns Tod in Venedig (hab ich den nicht neulich schon mal zitiert? Sucht mal bei der Frage "Wo würdest du dich gerne verirren."), der sich, verkleidet und geschminkt, unter die Jünglinge mischt, der aber von Aschenbach durchschaut wird. Die Falten, das groteske Lachen, die gefärbten Haare. Keine Chance. Ich zwischen den Jugendlichen, Gerade-Abiturienten, Azubis: Das ist schlimmer als das oben erwähnte Spiegelbild.

Was mich tröstet: Auch der Beobachter Aschenbach verwandelt sich gegen Ende der Novelle in genau dieses von ihm verachtete Zerrbild der Jugend. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mir die Beiständer von damals auf einem Cro-Konzert vorzustellen, auf dem sie nicht mehr so ganz genau wissen, was SWAG heißt.

Byebye, Hochmut, irgendwann erwischt es euch auch. Be prepared.

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