Mittwoch, 21. Januar 2015

Mit Vorsicht zu öffnen






Was hält dich davon ab, der Mensch zu werden, der du sein willst?

Eine junge Frau, kurz nach ihrer Hochzeit. Man gab ihr einen sehr, sehr simplen Auftrag. Alles, was sie tun musste, war, dieses kleine Kästchen zu überbringen, das sie gedankenverloren in ihren Händen wiegte.

Weiße Schrift auf Grautönen, perspektivisch ein wenig verzerrt. Nicht unbedingt hübsch, die Frage, auffällig schon gar nicht.

Die junge Frau ließ verträumt ihre Blicke über die Oberfläche der Schatulle gleiten. Sie bestand aus einfachem Messing, schlicht, aber sorgfältig gearbeitet.

Auch inhaltlich scheint die Frage zunächst banal. Vor allem, weil man dazu tendiert, sie von vorne beginnend zu beantworten. Was hält dich davon ab...

Während sie die Schatulle drehte, fiel ihr Blick auf das Schloss, das nicht den Anschein erweckte, etwas von großem Wert vor fremdem Zugriff zu bewahren, zu leicht schien es sich auch mit ungeübten Fingern öffnen zu lassen. Kein Schloss, der eines Schlüssels bedurft hätte. Nur ein einfacher, kleiner Riegel. Ihre Neugierde wuchs. Solch ein unscheinbares Kästchen, um das so ein Aufhebens gemacht wird. Was hält dich davon ab?

Abhalten? Mich? Also ersteinmal: Gar nichts. Nichts und niemand kann mich aufhalten, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe. Meine Mutter hat es mir damals auf dem Drei-Meter-Brett ins Ohr geflüstert, von jeder Facebooktimeline strahlt es mir mit hoffnungserfüllten Augen entgegen, ganze Ratgeberecken in Großstadtbuchhandlungen werden praktisch von diesen neun Worten ausgefüllt und vor jeder Klausur liege ich noch früh morgens hellwach im Bett und bete das Mantra der vielzitierten und quasi schon nicht mehr ernstzunehmenden Ellenbogengesellschaft - DU KANNST ES SCHAFFEN, WENN DU ES WIRKLICH WILLST.

Ja, ich glaube das. Hat sich bis jetzt immer bewahrheitet. Ich habe es immer geschafft. Also, fast immer. Aber zumindest immer, wenn ich es wirklich wollte, und darum geht's ja letztendlich. Die anderen Male waren mir eigentlich gar nicht so wichtig, das waren Chancen, schön, aber die kommen wieder, und wenn es nicht geklappt hat, dann konnte ich auch nicht wirklich was dafür. Nee, im Ernst, manchmal kommt einem halt einfach der beschissene Zufall in die Quere, aber da kann man halt nix gegen tun. Muss man sich mit abfinden. Aber unterm Strich: Ich kann alles schaffen, wenn ich es wirklich will. Also find auch du dich damit ab!

Nein, abfinden musste sie sich nicht damit. "Öffne es auf keinen Fall!" hatten sie gesagt, "Übergib es, ohne hineinzuschauen," hatten sie gesagt, aber wer sollte es merken? Ein feines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Vorsichtig, um nur keinen Kratzer auf dem Metall zu hinterlassen, fuhr sie mit ihrem Daumennagel unter den Riegel, der Reiz des Verbotenen prickelte auf ihrer Haut. (Warnung: Sie betreten linguistisches Shades-of-Grey-Niveau!)

Die Frage schleicht sich voran. Der Mensch zu werden...

Guck, mal ich steh hier. Zwei Beine, obendrüber ne ziemlich gute Figur, ohne jetzt arrogant klingen zu wollen, beim Friseur h... ach, du warst noch nicht fertig?
 
Der Mensch zu werden, der du sein willst.

(kurzes Schweigen, dann ein unsicheres Lachen) Bitte, der Mensch werden, der ich sein will? Äh, hallo? Bin ich doch? Willst du mich beleidigen? Bin ich dir etwa nicht gut genug? Kannst du dir vielleicht deine überzogenen Erwartungen und deinen ganzen abgefuckten Selbstoptimierungskram mal sonstwohin stecken? Ich bin gut so wie ich bin. Ja, schön, das klingt jetzt nach kalorienreduzierter Streichwurstproduktlinie, aber im Ernst, was geht dich das denn an? Das bin nämlich auch ich und wenn ich so klingen will, dann klinge ich halt wie'n Werbeslogan aus der Take-That-Ära! Und wenn ich wie ein Schokoriegeljingle klingen wollte, dann...

 Der Riegel lässt sich leichter beiseite schieben als gedacht, er bietet ihren schlanken Fingern kaum Widerstand. Mit einem leisen Geräusch gleitet er zurück. Sachte öffnet die junge Pandora den Deckel der Schatulle.

... dann... Sie verstummt.
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Meta-Ebenen aus.

Was ich eigentlich sagen wollte: Die Frage ist ein Arschloch. Sobald man nämlich versucht, sie in ihrer Gänze zu beantworten, zwingt sie einen zunächst einmal, schonungslos Bilanz zu ziehen. Wer bin ich? Wo stehe ich? Und was ist aus meinen Idealen geworden? Spätestens das ist der Punkt, an dem man sich fühlt wie das Rehkitz auf dem schneebedeckten Feld. Denn die Erkenntnis ist wohl: Wir können die Verantwortung für fast alles von uns schieben. Für Lampedusa, Klimawandel, Trash-TV. Können wir nix für. Da müssten erst mal die anderen was ändern, das liegt außerhalb unserer Macht. Ist gar nicht so schwer, hier den Finger auf die anderen zu richten. Auch wenn es darum geht, wer wir gerade sind. Unsere Gene, Tschernobyl, Barbie, überall Fastfoodwerbung, unsere Eltern hatten auch nie genug Zeit für uns, oh, habe ich schon Trash-TV erwähnt? Im Endeffekt ist die Frage nur Anlage oder Umwelt. Selbst die Entwicklungspsychologie lässt hier keinen Platz für eigene Schuld. Okay, wir haben uns überzeugt - wir sind einfach, wie wir sind.

Aber wenn es darum geht, wer wir werden wollen, gehen uns die Steine zum Werfen aus. Munition verballert, Ende. Wir können die Werbeindustrie nicht dafür zur Rechenschaft ziehen, dass wir in Zukunft nicht die sein werden, die wir mal sein wollten. Auch unsere Eltern nicht. Und erst Recht nicht das Dschungelcamp.

Am Ende bleibt nur die Erkenntnis, dass wir niemanden für unsere Zukunft belangen können als uns selbst. Niemand außer uns kann uns davon abhalten, die zu werden, die wir sein wollen. Man kann die Schuld gerade mal noch so weit verteilen als dass man sie auf die Kombination aus Faulheit, Ignoranz und Zeitverschwendung zurückführt - und das klingt nur im ersten Moment besser. Dait können wir uns abfinden. Natürlich. So wie sich wohl Pandora damit abfinden musste, dass sie es war, die Unheil und Verderben in die Welt gesetzt hat, müssen wir uns eingestehen, dass diese Frage uns all unserer Illusionen beraubt hat, was das Abgeben von Verantwortung anbelangt. Bitter ist das, wenn solch ein Gedanke erst einmal in unserem Kopf angelangt ist, denn auch wenn er sich nicht immer zeigt, sich hinter dem Kasten Wein oder dem Fernseher versteckt - er kommt wieder. Der Inhalt der Büchse der Pandora, komprimiert auf 1,3 kg Hirnmasse. Wie deprimierend.

Es dauerte eine Weile, bis Pandora realisierte, was sie getan hatte. Ein zweites Mal öffnete sie das Kästchen und starrte ungläubig ins Leere. 

Leere?

Nicht ganz. Am Boden der Schatulle erkannte sie bei genauem Hinsehen etwas. Sie konnte es nicht beschreiben, aber kaum, dass sie geblinzelt hatte, konnte sie es nicht mehr ausmachen. Nur ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Und sie begann zu realisieren, dass nicht alles verloren war. Plötzlich gab es... Hoffnung.

Hoffnung  2015. Es ist noch nicht zu spät. Solange jeder einzelne von uns noch so etwas wie eine Zukunft hat, haben wir es auch in der Hand, uns zu ändern. Es liegt in unserer Hand. Wir können es schaffen, wenn wir es wirkl... Oh Gott. Ich habe es befürchtet.

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